Rund 10 Millionen rastender Wat- und Wasservögel aus der Arktis, tausende von Seehunden und Kegelrobben, das weltweit größte Watt, Salzwiesen und Düneninseln, das sind die bekanntesten Merkmale des Wattenmeeres. Vor mehr als dreißig Jahren wurde der deutsche Teil des Wattenmeeres deshalb zum Nationalpark. Und wegen ihrer Einmaligkeit und globalen Bedeutung wurde das Wattenmeer 2009 sogar als Weltnaturerbe anerkannt.
Erstaunlich wenig ist aber bekannt über die Welt unter der Meeresoberfläche im Wattenmeer, aus der Unterwasserwelt in den großen Prielen und den anderen auch bei Ebbe noch unter Wasser liegenden Bereichen. Da dort fast überall gefischt wird konnte hier der Schutz durch die Nationalparks nur sehr langsam eine erste Wirkung bekommen. Spezielle Lebensräume aus der Unterwasserwelt wie Sandkorallen, Seegraswiesen und Bänke aus Miesmuscheln oder Europäischen Austern scheinen heute ebenso verschwunden zu sein wie einst typische Arten, zu denen Katzenhai, Nagelrochen und Seepferdchen gehören.
Der WWF hat einen dieser fast verschwundenen Lebensräume, die „Unterwasser-Miesmuschelbank“ durch die Meeresökologen Prof. Karsten Reise und Dr. Christian Buschbaum von der auf Sylt gelegenen Wattenmeerstation des Alfred-Wegener-Instituts näher untersuchen lassen. Um den Umfang abschätzen zu können, in dem natürlich gewachsene Unterwasser-Miesmuschelbänke einst vorkamen, werteten die beiden Wissenschaftler vor allem ältere schriftliche Quellen aus. In der nun veröffentlichten Studie sind wichtige Erkenntnisse, dass die Artenvielfalt in mehrjährigen Miesmuschelbänken unter Wasser höher ist als bei solchen im trockenfallenden Watt. Bevor die Miesmuschelfischerei unter Wasser begann, gab es im nordfriesischen Wattenmeer etwa zehnmal so viel Miesmuschelbänke wie sie dort heute im trockenfallenden Watt zu finden sind. Mehrjährige wilde Miesmuschelbänke waren unter Wasser einst weit verbreitet, während sie heute praktisch nicht mehr zu finden sind. Doch lässt sich das wieder ändern? Im schleswig-holsteinischen Wattenmeer wurden die Voraussetzungen dafür kürzlich durch Änderungen des Managements der Miesmuschelfischerei geschaffen.
Die Befunde der Studie im Einzelnen:
- Miesmuschelbänke kommen sowohl oberhalb wie unterhalb des mittleren Tiden-Niedrigwassers vor. In der Biologie nennt man die trockenen fallenden Wattflächen (den Gezeitenbereich) auch „Eulitoral“, und die ständig von Wasser bedeckten Bereiche unterhalb des Tidenniedrigwassers auch „Sublitoral“. Im Sublitoral bieten Priele sowie die flachen Übergänge zu den tiefen Wattströmen und deren stabile Hanglagen gute Bedingungen für Miesmuschelbänke. Die Überlebenschancen der Miesmuscheln im Sublitoral sind nicht generell schlechter als im Eulitoral. Natürliche Miesmuschelbänke unterschiedlichen Alters waren vor Beginn der Muschelfischerei daher auch im Sublitoral des Wattenmeeres verbreitet.
- Durch seltene, aber sehr starke Brutfälle im dauerüberfluteten Bereich des Wattenmeeres besiedeln die im Plankton vorkommenden Miesmuschel-Larven auch Gebiete, wo sie nach Stürmen, Eisgang oder starkem Vorkommen von Seesternen teilweise wieder weichen müssen. Das kann langfristige Bestandsschwankungen verursachen. Wo aber Miesmuscheln länger ausdauernde Bänke gebildet haben, schufen sie gute Voraussetzungen für eine Neubesiedlung, weil sich die planktischen Larven beim Übergang zum Bodenleben gerne zwischen die Muscheln setzen. Daraus resultieren sehr ähnliche räumliche Verteilungsmuster der Muschelbänke über Jahrzehnte hinweg.
- Miesmuscheln sind im Wattenmeer in ein Netz von Wechselbeziehungen mit Fressfeinden, Parasiten und konkurrierenden Aufwuchsorganismen eingebunden, die zwar Häufigkeit und Kondition der Miesmuscheln verändern, meist aber stabilisierend wirken. Ein größerer Nachteil für das Vorkommen im Sublitoral im Vergleich zum Eulitoral ist daraus nicht abzuleiten.
- Die Artenvielfalt in mehrjährigen Miesmuschelbänken des Sublitorals war dabei sogar höher als die im Eulitoral und weist Arten auf, die nur dort vorkommen. Dazu gehören einige Moostierchenarten und die gekerbte Seepocke. Im Vergleich zu den von der Fischerei angelegten Muschelkulturen, die sich auch im Sublitoral befinden, beherbergen Wildbänke mehr Begleitarten und weisen komplexere und ältere Strukturen auf.
- Bevor die Miesmuschelfischerei im Sublitoral in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann gab es dort nach Schätzungen im nordfriesischen Wattenmeer etwa zehnmal so viel Miesmuschelbänke wie sie heute im Eulitoral zu finden sind. Das Hauptvorkommen der Miesmuscheln lag damals im Sublitoral. Dabei gab es große und langfristige Bestandsschwankungen auch schon bevor eine intensive Nutzung der Miesmuscheln begann. Es ist aber immer wieder zu Ansiedlungen und daraus resultierenden ausdauernden, mehrjährigen Muschelbänken im Sublitoral gekommen.
- Die auf Bodenkulturen angewiesene Miesmuschelfischerei verhinderte durch ihren hohen Bedarf an jungen Miesmuscheln aus natürlichen Ansiedlungen bislang deren Weiterentwicklung zu mehrjährigen sublitoralen Miesmuschelbänken mit vielen Jahrgängen und einer artenreichen Lebensgemeinschaft. Das wiederum erschwert im Sublitoral die Ansiedlung von Jungmuscheln und hatte insgesamt die natürliche Dynamik solcher sublitoralen Miesmuschelbänke im Wattenmeer unterbrochen.
- Zudem überprägen heute oft die aus der Aquakultur verwilderten Pazifischen Austern die Miesmuschelbänke, die nahe ober- und unterhalb des mittleren Tiden-Niedrigwassers vorkommen und machen die Miesmuscheln zu Untermietern im Austernriff. Eine Chance auf die Entwicklung reiner Miesmuschelbänke besteht daher derzeit nur in tieferem Wasser des Sublitorals und etwas oberhalb der Austernriffe im Eulitoral. Miesmuscheln werden also wohl nie wieder im Wattenmeer so dominieren wie vor Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie können aber weiterhin eine bedeutende Rolle im Ökosystem des Wattenmeeres spielen.
Insgesamt betrachtet sollten es die heutigen ökologischen Bedingungen im Wattenmeer erlauben, dass sich Miesmuschelbänke im Sublitoral wieder ausbreiten und ein hohes Alter erreichen. Auch damit dies trotz Muschelfischerei möglich ist, wurde für das schleswig-holsteinische Wattenmeer zwischen Landesregierung, Muschelfischerei und Naturschutzverbänden eine naturverträgliche Form der Muschelfischerei vereinbart Entsprechend dieser Vereinbarung ist seit diesem Jahr die Muschelfischerei nur noch in vier der Tidebecken des dortigen Nationalparks erlaubt, so dass sich Unterwasser-Muschelbänke in den anderen Tidebecken in der Zukunft wieder entwickeln könnten.
Hinweise:
Die Studie „Muschelbänke in der Unterwasserwelt des Wattenmeeres“ findet sich zum Download auf wwf.de/watt/MuSubL-Studie).
Dr. Hans-Ulrich Rösner | Leiter Wattenmeerbüro, WWF Deutschland
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